Beschreibung
Im Horen-Verlag, Berlin-Grunewald erschien 1928 ein schmales Buch mit dem schlichten Titel »Gedichte« in einer kleinen Auflage.
Es war dies das einzige Buch des heute vergessenen Dichters Iwar von Lücken, der 1874 in Wiesbaden als Sohn eines Offiziers und einer russischen Prinzessin geboren wurde. Lücken verbrachte die Zeit bis zu Kriegsausbruch 1914 überwiegend in den baltischen Provinzen Russlands. »Verträumt hab’ ich die Jugendzeit«, schrieb er in einem Gedicht.
Der Krieg und die russische Revolution mit der Enteignung des mütterlichen Familienbesitzes – sowie die spätere Inflation – setzten seine Familie und ihn in den Stand völliger Armut. Nach dem Krieg begann man Iwar von Lücken als »Vagabundendichter« in Dresden wahrzunehmen. Im Winter 1923/24 tauchte er in Berlin auf. Dort gelang es ihm, einige seiner literarischen Arbeiten in Zeitschriften zu veröffentlichen, bevor sein Buch erschien. Damals konnte man Lücken im »Romanischen Café« und in Künstlerkneipen begegnen. Bis Anfang 1933 lebte er in Berlin und floh dann vor den Nationalsozialisten nach Paris. Dort verlieren sich auch die Lebensspuren. Bekannt sind einige Briefe, die er »auf dem Tode krank« aus Paris schrieb. Ein später Brief schildert den Wunsch »als dritter Mann auf einem Segelschiff via Italien nach Griechenland« zu fahren und in Smyrna zu landen. Ob es dazu gekommen ist, ist mehr als fraglich. Das genealogische Handbuch »Adlige Häuser« gibt 1935 als Todesjahr und Paris als Sterbeort an. Wulf Kirsten gab Hinweise, dass Iwar von Lücken erst im Kriegswinter 1939/40 in Paris starb.
Iwar von Lücken wird zum literarischen Expressionismus gerechnet, was nicht ganz richtig oder zumindest fragwürdig ist, wenn man die überlieferten Gedichte heranzieht. Ganz sicher kann man ihn zur Avantgarde-Szene in Leipzig und Berlin der Weimarer Zeit zählen. Peter de Mendelssohn berichtet, wie der Dichter in den angesagten Cafés und Künstlerkneipen saß. Er musste sich sein Essen zusammenbetteln und lief in abgetragenen Kleidern herum. Eine sogenannte »Lückengesellschaft«, die Walter Hasenclever mit Paul Cassirer, Igor Strawinsky und andere ins Leben gerufen hatten, unterstützten den Dichter materiell.
Der Hauptgrund, warum Iwar von Lücken heute nicht vergessen ist, sind die Maler, die die Gestalt des Dichters gesucht und gemalt haben. Allen voran Otto Dix, der 1926 ein lebensgroßes Bildnis malte. Das Bildnis des verkommenen, verarmten Adeligen nach dem Ersten Weltkrieg korrespondiert pathetisch mit den ganzfigurigen Bildern der Renaissance und des Barock, die Fürsten und Adligen gewidmet waren. Auch andere Maler porträtierten den Dichter: Oskar Kokoschka, Lasar Segall, Georg Alexander Mathéy und Conrad Felixmüller, dessen Bild aber als vernichtet gelten muss.
Albert Ehrenstein schrieb 1924 in einer Zeitschrift, die einige Gedichte Iwar von Lückens veröffentlichte: »Iwar von Lücken ist fünfzig Jahre alt geworden in makelloser Ungedrucktheit, seine Dramen hat er zerrissen, seine Aufsätze hat er verschmissen, er ist ein Original. (…) Zwischen ihm und dem Betrieb, der Industrie des Wortes, liegt eine Welt.«
Und Oskar Kokoschka notierte: »Ein Bohemien, heimatlos geworden durch die Kriegsumstände, in zerschlissenen Kleidern, tauchte er manchmal auf, nahm ein warmes Mahl ein, und hinterließ ein Gedicht.« Iwar von Lücken soll Calderon und Cervantes übersetzt haben, ohne einen Verleger dafür zu finden. Als einziges Buch erschien 1928, ein schmaler Band mit dem schlichten Titel »GEDICHTE« im Horen-Verlag in einer kleinen Auflage. Das Bändchen hat 48 Seiten und ein schönes Westentaschenformat (117 x 180 mm). Gesetzt und gedruckt ist es in der Walbaum-Antiqua von der Offizin W. Drugulin, Leipzig. Iwar von Lücken hat die Bücher nummeriert und handsigniert und sie – wie anzunehmen ist –, an seine Freunde und Gönner als Gastgeschenk verteilt. Wie hoch die Auflage war, ist unbekannt.
CLEMATIS
Da nun der Tod bald naht,
So denke ich ans Grab.
Und denke, eine Clematis steht darauf
Und weint.
Ja, alle Freude schuf ich aus der Trauer,
Aber ich bin zu müde jetzt
Und muß ein Geheimnis mit mir nehmen.
Das werden die andern lösen.
Eine Läuterung steht noch bevor.
Und so lange mag sie weinen auf meinem Grabe
Die Clematis, die ich so geliebt.